Bericht
Herzlichen Dank an Melanie H.
MEINE REISE IM MALORT
Seit einigen Jahren besuche ich den Malort bei Sigrid. Als ich das erste Mal dort war, überlegte ich, was ich wohl heute zeichnen würde. Ich war noch etwas schüchtern und nahm mir nur wenig Raum. Ich zeichnete in dem Format, das ich gewohnt war: ein Bild, ein Blatt – und wenn das Bild fertig war, war es abgeschlossen.
Doch mit der Zeit wurde ich mutiger. Ich ließ mir ein weiteres Blatt anheften, sodass meine Zeichnung über den Rand hinaus weiterfließen konnte. Anfangs blieb ich bei vertrauten Motiven, ich malte Dinge, die mir schon als Kind leicht von der Hand gegangen wären. Die Größe meiner Bilder entsprach dem, was mir bekannt war.
Dann kam eine längere Pause, in der ich nicht mehr malte – eine Babypause. Jahre später kehrte ich in den Malort zurück. Dunkel erinnerte ich mich an meine früheren Bilder, doch diesmal wollte ich etwas anders machen. Ich entschied mich, gleich vier Blätter aufspannen zu lassen – eine Größe, die mir völlig neu war.
Es fühlte sich an, als hätte sich in dieser Zeit der Pause eine unsichtbare Veränderung vollzogen. Ich war weniger verkopft, freier. Diese vier Blätter waren nur für mich bestimmt, und ich begann einfach zu malen. Ohne Plan, ohne feste Vorstellung, was entstehen sollte. Ich ließ mich überraschen.
Es war wie ein Tagtraum, der aufs Papier floss und scheinbar kein Ende nahm. Jedes Mal, wenn das Papier voll war, wurde ein weiteres Blatt angeheftet. So wuchs mein Bild stetig weiter – und inzwischen hat es bereits 100 Blätter erreicht.
MALEN OHNE ZIEL
Meine Stimmungen spiegeln sich oft in meinen Bildern wider. Manchmal bin ich müde oder schlecht gelaunt, manchmal fröhlich. Mein Kopf hat oft eine Vorstellung davon, wie das Bild weitergehen soll, doch meist kommt es anders. Das Bild entwickelt sich ohne Plan, führt mich in unerwartete Richtungen. Manchmal berührt mich das, was entsteht. Manchmal vergesse ich, wo meine letzte Spur geendet hat.
Das Wissen, dass die Bilder im Malort bleiben, fühlt sich für mich gut an. Ich muss mir keine Gedanken um sie machen. Sie werden für mich aufbewahrt. Ich muss sie weder ordnen noch verstauen. Nur einmal hatte ich das Bedürfnis, ein Bild zu teilen. Doch dieser Wunsch verflog schnell – so, wie Dinge mit der Zeit ihre Wichtigkeit verlieren.
Nach einem Malort-Besuch fühle ich mich oft anders als zuvor. Die Emotionen des Tages sind verflogen, und ich bin mir selbst ein Stück näher gekommen.
DER MALORT ALS RAUM DER STILLE UND DES SPIELS
Der Malort ist manchmal sehr still, manchmal erfüllt von Gesprächen – je nachdem, wie die Gruppe sich an diesem Tag zusammenfindet. Beides hat seine eigene Qualität: das lebendige, verspielte Malen im Austausch mit anderen oder das versunkene Arbeiten in völliger Ruhe. An manches musste ich mich erst gewöhnen: nur in eine Richtung zu streichen, nicht mehrere Farben gleichzeitig zu benutzen, zu warten, bis die Farbe getrocknet ist. Oder auch darauf zu achten, wie ich den Pinsel halte. Der Malort ist ein Ort der Freiheit, aber mit klaren Regeln und einem festen Rahmen. Sigrid ist in diesen Dingen sehr klar. Einmal machte ich einen Versuch mit Mischfarben – doch schnell merkte ich, dass das bewusste Holen der Farbe vom Palettentisch seinen Sinn hat.
Es verlangsamt mich, bringt mich in die Achtsamkeit. Es erfordert Konzentration, damit der Pinsel nicht versehentlich in eine andere Farbe taucht – was mir dennoch immer wieder passiert, besonders wenn ich spiegelverkehrt vor dem Tisch stehe. Ohne Scham wird der Pinsel dann einfach ausgewaschen – nicht von mir, sondern von Sigrid, die uns bedient. Auch das ist ein kleiner Lernprozess: sich bedienen zu lassen. Ein Reißnagel ist im Weg, die Farbe läuft herunter, ein Stuhl wird gebraucht, ein neues Blatt, Mischfarbe – aussprechen, was ich jetzt brauche. Es ist selbstverständlich, bedient zu werden.
EIN PROZESS OHNE BEWERTUNG
Die Bilder der anderen nehme ich kaum wahr. Sie sind nie wichtig für mich. Eine Zeit lang ist meine Tochter mitgekommen, und ich habe es genossen, gemeinsam neben ihr zu malen, auch wenn sie oft schnell fertig war.
Wenn ich mit meiner Tochter den Malort besuche, hat das eine besondere Qualität. Wir kommen als eine Einheit. Jeder von uns malt sein eigenes Bild, und trotzdem sind wir verbunden. Ich spüre, wann für sie das Malen ein Ende hat und es Zeit wird zu gehen. Sie bestimmt die Zeitspanne. Ist sie mit ihrem Bild fertig, bin ich es automatisch auch. So haben wir es im Vorhinein vereinbart – und das funktioniert wunderbar. Es kam vor, dass wir bereits nach 15 Minuten fertig waren. Ich kann das stehen lassen, freue mich darüber, dass sie spürt, wann es genug ist, und dass sie mir vertraut, dass das für mich in Ordnung ist. Es stärkt unsere Bindung, unser gegenseitiges Fühlen.
Als sie älter wurde, hatte ich manchmal das Gefühl, dass sie mir Zeit schenken wollte. Sie ließ ihr Tun langsamer ausklingen, obwohl sie eigentlich schon fertig war. Ich fand das sehr nett von ihr, aber ich nutzte ihre Gefälligkeit nicht aus. Mir war klar, dass sie fertig war, also rundete ich mein Bild ab, um es nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Für mich ist es völlig in Ordnung, mich ihrer Ausdauer anzupassen. Mein Bild hat keine Eile, keinen Plan – ich kann es gut stehen lassen. Nur selten fällt es mir schwer zu gehen. Wenn doch, dann meist in Momenten, in denen ich mich innerlich schon von meinen alten Blättern verabschieden wollte.
WAS ICH VOM MALORT MITNEHME
Was mir der Malort gibt? Achtsamkeit, Entschleunigung und Wertfreiheit – auch mir selbst gegenüber. Nur ein einziges Mal, in all den vielen Blättern, gefiel mir etwas nicht – weil die Farbe nicht meiner Vorstellung entsprach. Doch ich ließ los, malte weiter, und es war gut. Kein Drama, einfach Akzeptanz. Wahrscheinlich habe ich noch viel mehr gelernt, ohne es bewusst zu merken. Denn oft merke ich nach dem Malort, dass sich meine Stimmung verändert hat. Ein Geschenk für mich selbst und meine Tochter: eine besondere Zeit der liebevollen Verbundenheit. Wenn ich alleine den Malort besuche, genieße ich die Stille und den Raum für mich. Doch auch die Momente mit meiner Tochter sind einzigartig – in Symbiose mit ihr und doch ganz bei mir selbst.